Unternehmen in der Türkei geht hart gegen Streikende vor
Für die Belegschaft der Fabrik Baldur Süspansiyon bei Istanbul hat das neue Jahr nicht mit Feuerwerk, sondern mit einer Feuertonne begonnen. Die steht seit einigen Tagen vor den geschlossenen Werkstoren und signalisiert: Hier wird gestreikt! In dem Werk, das dem spanischen Unternehmen MBHA gehört, werden Blattfedern für die Radaufhängung hergestellt, Hauptabnehmer sind die Daimler-Werke in der Türkei.
»Die Arbeiter warten seit über vier Jahren auf den Abschluss eines Tarifvertrags«, erläutert Özkan Atar, Generalsekretär der Gewerkschaft Birleşik Metal-İş, den Hintergrund des Streiks gegenüber »nd«. »Obwohl wir die Arbeitgeber mehrmals um ein Angebot gebeten haben, sind sie zum letzten vereinbarten Treffen nicht einmal erschienen. Da auch die von uns eingeschalteten Vermittler keine Einigung erreichen konnten, sahen wir uns zum Streik gezwungen.« Mit dem Tarifvertrag will die Gewerkschaft Verbesserungen bei der Bezahlung und den sozialen Rechten der Arbeiter erreichen.
Gesetzlich ist geregelt, dass eine Gewerkschaft mehr als die Hälfte der Belegschaft eines Betriebes organisieren muss, um Tarifverhandlungen führen zu können. Im Fall des Baldur-Werks erreichte Birleşik Metal-İs diese Mehrheit bereits 2016. Dies wurde jedoch nicht nur durch die Geschäftsführung, sondern auch durch die konkurrierende Gewerkschaft Türk Metal vor Gericht angefochten. Letztere ist Mitglied im größten Gewerkschaftsverband Türk-İş, der für seine regierungstreue Linie bekannt ist. Birleşik Metal-İş gehört dagegen zur oppositionellen Konföderation DİSK. Bis im Juli 2020 letztinstanzlich bestätigt wurde, dass Birleşik Metal-İş die rechtmäßige Gewerkschaft bei Baldur ist, lagen die Tarifverhandlungen auf Eis.
Bereits zu Beginn des Streiks am 25. Dezember versuchte die Unternehmerseite, diesen zu sabotieren. »Morgens um fünf Uhr versuchten sie, Streikbrecher in die Fabrik zu schicken. In der Türkei ist das verboten«, erklärt Atar. Als die Kollegen das Eindringen der Streikbrecher verhindern wollten, hätten die Sicherheitskräfte den lokalen Gewerkschaftsvorsitzenden und vier Streikende in Gewahrsam genommen. An Silvester seien mehrere Streikende entlassen worden, um ihre Kollegen abzuschrecken. Da in der Türkei Entlassungen während der Corona-Pandemie eigentlich verboten sind, bezog sich das Unternehmen auf einen Ausnahmeparagrafen, der Entlassungen wegen »Verletzung der Regeln von Moral und gutem Vorsatz« erlaubt. Die Betroffenen haben danach keinen Anspruch auf Abfindung, und eine neue Anstellung ist mit diesem Entlassungsgrund schwer zu finden.
Am gleichen Tag rief der Arbeitgeber in einem Schreiben an die Belegschaft diese zur Beendigung des Streiks auf. Darin hieß es, die Regierung würde den Streik ohnehin bald beenden, wenn sie ihn als Störung der öffentlichen Ordnung einschätze. Solche Entscheidungen, die de facto einem Streikverbot gleichkommen, kann Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan per Dekret erlassen. Atar hält das im aktuellen Konflikt für unwahrscheinlich, die Drohung allein stelle einen Rechtsbruch dar, denn offenbar habe sich die Geschäftsleitung mit einer solchen Forderung an die Regierung gewandt.
Atar verlangt nun, dass der deutsche Autohersteller Daimler als größter Abnehmer von Baldur in dem Konflikt interveniert: »In der Daimler-Gruppe sowie bei deren Zulieferern bestehen internationale Verpflichtungen, grundlegende Menschenrechte und damit auch Gewerkschaftsrechte einzuhalten.« Schon seit 2017 informiere die Gewerkschaft den Daimler-Vorstand über die Entwicklungen und die Gerichtsurteile, die diverse Rechtsbrüche belegten. Dazu zählten auch unrechtmäßige Entlassungen aufgrund gewerkschaftlicher Organisierung. »Um diese Rechtsbrüche zu beenden und eine Lösung für derartige Probleme zu finden, ist die Intervention von Daimler notwendig. Wir hoffen, in den nächsten Tagen zu einem Ergebnis zu kommen.«
Quelle: Neues Deutschland