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Berliner Pflegekräfte stellen 100-Tage-Ultimatum

Am Tag der Pflege protestieren Berliner Klinik-Beschäftigte – und setzen Senatschef Müller unter Druck. In der Vivantes-Reha gibt es einen ersten Ausstand.

Streit um fehlende Pflegekräfte, Tarifkampf in den Tochterfirmen und pandemiebedingte Millioneneinbußen – Berlins landeseigene Krankenhäuser stehen vor turbulenten Wochen. Schon am Mittwochmorgen – dem internationalen Tag der Pflege – haben Beschäftigte der Vivantes-Reha in Schöneberg die Arbeit niedergelegt.

Den landeseigenen Vivantes-Kliniken zufolge mussten Termine für 170 Reha-Patienten „kurzfristig abgesagt“ werden. Hunderte in Verdi organisierte Klinik-Mitarbeiter protestierten am Nachmittag vor dem Roten Rathaus. Sie wollen einen „Entlastungstarifvertrag“, letztlich also mehr Personal auf den Stationen.

Die Gewerkschaft fordert die Vorstände von Vivantes und Charité auf, binnen 100 Tagen einen Vertrag über eine neue Personalbemessung zu unterzeichnen. Sollte ein solcher Entlastungstarifvertrag bis 20. August nicht zustande kommen, wird Verdi zum Streik aufrufen. Ein Ausstand fiele demnach in die Hochphase des Wahlkampfes für Abgeordnetenhaus und Bundestag im September.

Fast 8400 Beschäftigte der Landeskliniken haben Verdi zufolge eine entsprechende Petition unterzeichnet, damit stünde ein Großteil des betroffenen Personals hinter der Forderung. Die Petition soll an Bürgermeister Michael Müller (SPD) gehen. Für die Landesregierung trat Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (ebenfalls SPD) vor der Verdi-Kundgebung auf.

Insgesamt arbeiten für Charité und Vivantes 36.000 Beschäftigte, neben Pflegekräften, Ärzte, Laboranten, Technikern, Service-Angestellte und Verwalter. Während Pflegekräfte über Jahrzehnte kaum in Gewerkschaften eingetreten waren, änderte sich dies insbesondere in Berlins landeseigenen Krankenhäusern.

Gerade an der Charité ist der Organisationsgrad vergleichsweise hoch. Und an der Universitätsklinik wurde nach einem Streik 2015 schon mal ein Tarifvertrag über höhere Personalschlüssel vereinbart. Damit war die Charité bundesweit Vorbild. Die Mindestbesetzungen – etwa pro Pflegekraft maximal zwei Intensiv-Patienten – dienten der Bundesregierung letztlich als Modell für die gesetzlichen Personaluntergrenzen.

Tarif des öffentlichen Dienstes für Reha, Labor, Reinigung?

Doch selbst an der renommierten Charité fehlen oft Pflegekräfte, der Tarifvertrag wird Verdi zufolge nicht immer eingehalten. Und aus den meisten anderen Krankenhäusern ist zu hören, dass die Personalschlüssel des Bundes nur sehr vage berücksichtigt würden.

Nun soll das Instrument geschärft werden: Als Modell dienen Verdi diesmal die vereinbarten Entlastungstarife an den Universitätskliniken Mainz, Jena und Lübeck-Kiel: Jede Station ermittelt demnach je nach Patientenzahl und Schweregrad einen Personalbedarf pro Schicht. Wird diese Vorgabe im Alltag unterlaufen, bekommen die eingesetzten Kollegen einen „Belastungspunkt“ – ab sechs Punkten können sie einen Tag freimachen. Das soll die Kliniken zwingen, sukzessive mehr Personal einzustellen.

In den Vivantes-Häusern fordert die Gewerkschaft zudem den Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TVöD) auch für die Tochterfirmen. Während Pflegekräfte nach TVöD bezahlt werden, erhalten Beschäftigte in Reha, Labor, Reinigung, Transport und Catering oft Hunderte Euro weniger im Monat – die bestreikte Reha am Auguste-Viktoria-Klinikum (AVK) in Schöneberg ist also nur ein Fall.

Der Vivantes-Vorstand teilt mit, dass der „TVöD für alle“ 35 Millionen Euro zusätzlich im Jahr koste – und schon das Ergebnis für 2020 bei minus 30 Millionen Euro gelegen habe. Formal ist bundesgesetzlich geregelt: Die Krankenkassen kommen für Personal und Medikamente, die Länder für Technik und Bauten auf.

Beides wird, da sind sich viele Beobachter einig, äußerst knapp bemessen. Auf die Kassen hat der Vivantes-Vorstand zudem wenig Einfluss. Allerdings wurde schon in Berlins rot-rot-grüner Koalitionsvereinbarung von einer „Angleichung an den TVöD“ für Tochterfirmen der Landesunternehmen gesprochen.

Senatorin Kalayci sagte vor dem Roten Rathaus nun, dass die Tochterfirmen „keinen TVÖD erhalten, muss korrigiert werden“. Dass Kalayci zudem sagte, die Pflegekräfte in den Krankenhäusern müssten entlastet werden, werteten einige Demonstranten so, als dass sie die Forderung nach einem entsprechenden Tarif unterstützt.

Im rot-rot-grünen Senat wird wohl nächste Woche über die Lage gesprochen, schon weil die Krankenhaus-Vorstände wissen wollen, was das Land zu tun bereit ist. Mit dem Vivantes-Vorstand verhandelte zuletzt Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) über nötige Pandemie-Zuschüsse. Kollatz ist interimsmäßig Vivantes-Aufsichtsratschef.

Für die Charité wiederum ist Berlins Regierender Bürgermeister und Wissenschaftssenator Müller zuständig. Auch die Universitätsklinik erhielt pandemiebedingt Extrazuschüsse, Müller förderte die Charité stets auch deshalb, weil Berlin mit der Großklinik im Zentrum als „Gesundheitsstadt 2030“ reüssieren soll. Dem nächsten Senat aber gehören Müller, Kollatz und Kalayci nicht an.

Zehn Prozent mehr Pflegekräfte gefordert

Wenn sich der Pflegekräfte-Einsatz enger am Versorgungsbedarf orientieren soll, erfordert dies schätzungsweise mindestens zehn Prozent mehr Personal. Die Spitzen von Vivantes und Charité weisen darauf hin, dass so viele – insgesamt circa 1200 – examinierte Pflegekräfte trotz gestiegener Löhne absehbar kaum zu rekrutieren wären. Verdi hält dagegen, dass viele Pflegekräfte zwar die Branche verlassen, bei weniger Stress, weniger Bürokratie und weniger Schichtdiensten aber zurückkämen.

Die Vivantes-Spitze um Johannes Danckert und der Charité-Vorstand um Heyo Kroemer haben immer wieder auf die Personalnot in der Pflege aufmerksam gemacht – allerdings auch darauf verwiesen, dass diese Frage kaum in einzelnen Kliniken zu klären sein wird.

Nun verweisen sie darauf, dass schon im Sinne der von Verdi gewünschten Flächentarife der Kommunale Arbeitgeberverband Berlin zuständig sei. Letztlich, so ist zu hören, solle sich eines so zentralen Themas besser gleich die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände auf Bundesebene widmen.

„Betten und Geräte sind da – Fachkräfte fehlen“

Ausstände im Gesundheitswesen sind heikel. Um Patienten nicht zu gefährden und Akutfälle in den Rettungsstellen zu versorgen, gibt es Notdienstvereinbarungen. Zuvor müssen Gewerkschaft und Klinikleitung aber klären, für welche Patienten die im Einzelfall gelten.

Streiks in den Krankenhäusern kirchlicher und privater Träger – beispielsweise Caritas, Diakonie, Helios, Sana – sind ungleich schwieriger. Pro Station sind dort oft nur eine Handvoll Beschäftige gewerkschaftlich organisiert, der politische Druck auf diese Kliniken ist geringer. In deren Aufsichtsräten sitzen zudem keine Landespolitiker, in den Parlamentsausschüssen wird oft nur nach Vivantes und Charité gefragt.

„Es ergibt Sinn, dass die Pflegekräfte bessere Bedingungen zuerst dort durchzusetzen versuchen, wo viele von ihnen gewerkschaftlich organisiert sind“, sagt Ex-Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU), der in Marzahn-Hellersdorf für den Bundestag kandidiert. „Entscheidend aber wird sein, für alle Kliniken bessere Personalschlüssel verbindlich zu machen. Es fehlen weder Betten noch Geräte, es fehlen Fachkräfte.“

Vivantes-Chef muss auch mit Ärzten verhandeln

Vivantes-Chef Danckert erwarten bald weitere Fragen von Beschäftigen, Abgeordneten und Patienten: Aus Kostengründen gibt Vivantes langfristig das Wenckebach-Klinikum in Tempelhof als stationäres Krankenhaus auf – im AVK im nahen Schöneberg sei die Versorgung besser zu gewährleisten. Dagegen wird vor Ort protestiert.

Dann fordert auch noch der Marburger Bund höhere Löhne für die Ärzte – nach Tagesspiegel-Informationen hat die Medizinergewerkschaft den Vivantes-Vorstand schon zu Tarifgesprächen eingeladen.

Während private Krankenhäuser viele Beschäftigte in externe Niedriglohnfirmen ausgliederten, hat der Senat dies Vivantes untersagt. Als „Maximalversorger“ behandelt Vivantes in seinen in der Stadt verteilten Rettungsstellen all jene Patienten, deren Leiden kostenintensiver behandelt werden, als die sogenannten Fallpauschalen der Kassen vorsehen: Stichwunden, Überdosen, demente Senioren. Dazu kommen vergleichswiese viele Unversicherte.

Die Charité erhält zwar neben Landes- auch Bundesmittel, die Regierung Angela Merkels (CDU) bekennt sich so zur Berliner Spitzenmedizin. Allerdings versorgen auch die Charité-Notaufnahmen allerlei Alltagsfälle, die in Universitätskliniken anderer Städte weniger häufig sein dürften.

Der Senat, so schätzen das Klinikmanager, Gewerkschafter und Abgeordnete gleichermaßen ein, wird sich entscheiden müssen, wie er seine Landeskrankenhäuser in diesem Sommer unterstützt.

Quelle: Tagesspiegel

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