Indien: Rund 250 Millionen Menschen beim eintägigen Ausstand gegen arbeiter- und bauernfeindliche Gesetzesinitiativen der regierenden Hindu-Nationalisten
Generalstreiks in Indien sind Massenevents mit astronomisch klingenden Zahlen: Trotz der durch die Pandemie erschwerten Bedingungen legten am vergangenen Donnerstag nach Angaben der Gewerkschaften 250 Millionen Menschen ihre Arbeit nieder oder beteiligten sich an Protestaktionen. Es wäre damit der zahlenmäßig größte Generalstreik der Geschichte überhaupt – wohl noch vor dem Ausstand in Indien im Januar dieses Jahres, für den ähnliche Teilnehmerangaben verkündet worden waren. Auch die vorherigen Rekordmarken wurden bereits in Indien gesetzt, mit 200 Millionen Streikenden im Januar 2019 und mit 180 Millionen im September 2016. Überprüfbar sind diese Zahlen für unabhängige Beobachter kaum.
Zum Bharat Bandh, so die in Indien geläufige Bezeichnung für derartige Massenstreiks, aufgerufen hatten diesmal zehn Gewerkschaftsdachverbände, darunter das Centre of Indian Trade Unions (CITU) und der All-India Trade Union Congress (AITUC), verbunden mit den kommunistischen Parteien CPI (M) beziehungsweise CPI. Aber auch Bauernverbände, soziale Bewegungen, Linksparteien und die Kongresspartei riefen zur Unterstützung der streikenden Arbeiter auf. Der Ausstand richtete sich gegen verschiedene beschäftigten- und bauernfeindliche Gesetzesinitiativen der hindu-nationalistischen Rechtsregierung des Premiers Narendra Modi. Zu den Forderungen der Streikenden gehörte neben der Rücknahme dieser Maßnahmen und einem Stopp aller Privatisierungen vor allem die monatliche Auszahlung von 7.500 Rupien (etwa 84 Euro) an alle Familien, die wegen fehlender regulärer Beschäftigung keine Einkommenssteuer aufbringen können. Außerdem die kostenlose Verteilung von zehn Kilogramm Lebensmitteln im Monat an alle bedürftigen Familien, eine Erhöhung der Renten sowie der Gesundheits- und Bildungsausgaben.
Staatliche Repression
Die tatsächliche Streikbeteiligung schwankte zwischen den einzelnen Branchen. Besonders betroffen waren der öffentliche Dienst, Banken, der Bergbau, Ölraffinerien und Elektrizitätswerke. Aber das Streikgeschehen unterschied sich auch stark von Bundesstaat zu Bundesstaat, abhängig von der politischen Ausrichtung der jeweiligen Regionalregierungen. In Kerala etwa unterstützte die von der CPI (M) geführte Regierung den Streikaufruf, der in dem Bundesstaat fast vollständig befolgt wurde. Busse und Bahnen blieben in den Depots, auch Taxis und Rikschas fuhren nicht. Geschlossen blieben alle öffentlichen Gebäude, aber auch größere Geschäfte. Von den 4.500 Beschäftigten der Regionalverwaltung Keralas erschienen örtlichen Pressemeldungen zufolge nur 17 zur Arbeit.
Ganz anders das Bild in Westbengalen, wo die Linke nach 25jährigem Regieren 2011 die Wahlen verloren hatte. Nun, ein Jahr vor dem nächsten Urnengang, stellten sich die Kommunisten mit an die Spitze der Streikbewegung, die hier von harter Repression getroffen wurde. Immer wieder kam es zu Zusammenstößen der Sicherheitskräfte mit Streikenden, die Straßen, U-Bahnhöfe und Geschäfte blockierten. Hunderte Aktivisten wurden in Westbengalen verhaftet, davon 140 in der Hauptstadt Kolkatta. Groß war die Resonanz auch im Staat Odisha. Trotz der Versuche der Regionalregierung der rechten BJP, den Streik zu verbieten, blieben fast alle Betriebe und viele Geschäfte geschlossen. Hingegen waren staatliche Einrichtungen geöffnet, wurden nach Medienangaben aber aufgrund eines Boykotts durch die Bevölkerung kaum frequentiert.
Die Repression der von der BJP regierten Bundesstaaten Haryana, Uttar Pradesh and Madhya Pradesh richtete sich wiederum vor allem gegen Aktivisten aus den Bauernbewegungen. Denn das All India Kisan Sangharsh Coordination Committee, ein Zusammenschluss von 250 Kleinbauernorganisationen, hatte parallel zum Generalstreik und im Bündnis mit den Gewerkschaften zu einem zweitägigen nationalen Bauernprotest und einem Marsch nach New Delhi aufgerufen, um sich gegen eine weitere sogenannte Liberalisierung des Agrarmarktes zu wehren. Die Regierungen der drei umliegenden Bundesstaaten versuchten daher, die Autobahnen polizeilich abzuriegeln, um Protestmärsche in Richtung der Hauptstadt aufzuhalten. Vergeblich: Alle acht Autobahnen, die nach New Delhi hineinführen, wurden durch Demonstrationszüge der Bauern ins Stadtzentrum in Beschlag genommen. An den Ausfallstraßen kam es am Stadtrand zu schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei, die mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die Protestierenden vorging, wie Videos in den sozialen Medien zeigen. Die vielen zehntausend Protestierenden konnte sie aber nicht aufhalten und musste schließlich den Weg ins Stadtzentrum freigeben.
Die ausufernde staatliche Repression wurde von Valter Sanchez, dem Generalsekretär des weltweiten Zusammenschlusses von Industriegewerkschaften, Industriall, scharf kritisiert: »Wir verurteilen den Versuch, diesem legitimen demokratischen Protest gewaltsam zu begegnen.« Die Industriall stehe solidarisch an der Seite der indischen Gewerkschaftsbewegung und ihrer Bemühungen, ein breites Bündnis mit Kleinbauern und Landarbeitern gegen die volksfeindliche Politik der Regierung aufzubauen, wird Sanchez in einer Mitteilung zitiert.
Opposition bleibt schwach
Der Generalstreik verlieh in Coronazeiten der Vitalität von gewerkschaftlichen und sozialen Bewegungen in Indien sichtbaren Ausdruck. Die parlamentarische Opposition ist hingegen weiter schwach aufgestellt. Nach Jahren der Wahlniederlagen galt den indischen Linksparteien daher der Ausgang der Regionalwahlen im nordindischen Bihar Mitte November bereits als wichtige Erfolgsmeldung. Bei diesem ersten Votum auf dem Subkontinent nach Ausbruch der Pandemie konnte die CPI-(ML)-Liberation die Zahl ihrer Mandate von sieben auf 19 der 243 Sitze des Regionalparlaments steigern, während CPI und CPI (M) jeweils um zwei auf vier beziehungsweise sechs Sitze zulegten. Aber auch zusammengerechnet ergaben die Ergebnisse der drei Parteien keine fünf Prozent.
Parlamentarischen Druck braucht Modi also kaum zu fürchten. Ob der Druck des Generalstreiks – des bereits fünften seit Amtsantritt 2014 gegen seine Regierung gerichteten eintägigen Bharat Bandhs – wirklich ausreicht, um einen Politikwechsel durchzusetzen, scheint eher unwahrscheinlich. Rekordverdächtig klingende Generalstreikmeldungen sind daher auch für die Zukunft aus Indien zu erwarten.
Quelle: Junge Welt