Roberta Elster* ist 37 Jahre alt und war erfolgreiche selbstständige Schneiderin – bis ein Bandscheibenvorfall ihr das Arbeiten unmöglich machte. Seitdem ist sie auf Unterstützung vom Jobcenter angewiesen. Im Interview berichtet sie über Schikanen und Ängste vor dem Gang zum Sachbearbeiter – und warum die Pandemie auch etwas Gutes hat.
Du hast eine Berufsausbildung zur Schneiderin gemacht und warst in deinem Beruf sogar sehr erfolgreich. Du hattest ein eigenes Label und ein eigenes Atelier. Wie kam es dazu, dass du Hartz IV beziehen musstest?
Ich hatte einen schweren Bandscheibenvorfall, wodurch ich mehrere Monate lang nicht arbeiten konnte. Ich konnte meine Ateliermiete nicht mehr bezahlen und musste die Werkstatt schließen. Da ich als Selbstständige keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld hatte, habe ich Hartz4 beantragt und eine neue Selbstständigkeit angemeldet.
Auch wenn das mit meinem Rücken nie wieder richtig gut wurde und ich zudem noch mit starken Depressionen zu kämpfen habe, lief es zunächst gut – ich konnte meine geschneiderte Ware auf Märkten und Messen verkaufen und somit zunächst wieder Fuß fassen.
Vom Jobcenter weggekommen bin ich dadurch allerdings nicht, denn dann kam die Corona-Pandemie, und Messen und Märkte waren von da an Geschichte. Dadurch kann ich natürlich nichts mehr verkaufen und meine Einnahmen sind weggebrochen, seitdem bin ich wieder auf Hartz4 angewiesen.
Was hat sich an deiner Lebenssituation durch die Abhängigkeit vom Jobcenter geändert?
Es hat sich alles verändert. Mir war nicht bewusst, was das für Auswirkungen auf die Psyche eines Menschen haben kann. Du verlierst alles, was du dir aufgebaut hast und rutschst in Depressionen ab. Dann landest du bei einer Behörde, die dich immer weiter destabilisiert.
Du sitzt vor mehreren Sachbearbeiter:innen – ja, in meinem Fall waren es oft mehrere auf einmal – und musst dich für alles rechtfertigen. Für jeden Cent, den du ausgibst, dafür, warum du in deren Augen so ein Versager bist. Und im Endeffekt bettelst du nur nach Geld. So fühlt sich das an.
Ich weiß noch, dass ich damals einen neuen Handyvertrag abgeschlossen hatte für 27 Euro. Mir wurde gesagt, dass ein Handy zu haben, allein schon Luxus sei und mir das in der jetzigen Situation nicht zustehe.
Diese ständige Gängelei ist entwürdigend, du fühlst dich wie im falschen Film. In dieser Situation bist du nichts anderes als eine Nummer, die mit jedem Mittel zurück auf den Arbeitsmarkt verdonnert werden muss. Und bis dahin bist du in deren Augen kein Mensch mit Grundbedürfnissen, Emotionen und Würde. Das setzt dich einem massiven Druck aus. Du hast nicht nur kein Geld und lebst in Armut, du hast auch keine Würde mehr.
Ich hatte vor jedem Gang zum Briefkasten Angst vor der nächsten „Einladung“ zu einem Termin mit der Androhung der nächsten Sanktion. Wenn du sowieso schon labil bist, dann hältst du das nicht aus.
Was bedeutet „Armut“ für dich?
Armut heißt für mich, wenn die Nudeln für 99 Cent zu teuer sind.
Hast du selbst Sanktionen durch das Jobcenter erlebt, und wenn ja, was waren die Gründe dafür?
Ich wurde über zwei Jahre hinweg regelmäßig sanktioniert, weil ich aufgrund sehr starker Depressionen die Mitwirkungspflicht nicht wahrnehmen konnte. Ich habe über mehrere Monate hinweg von 97 – 127 Euro leben müssen. Der Grund hierfür war, dass ich nicht zum Termin erschienen bin. Ich glaube dieser Punkt ist für viele so unverständlich.
Aber wenn man selbst Depressionen hat und weiß, wie es ist, permanent mit der Existenzangst zu leben, mit der Angst, sich beim nächsten Termin wieder demütigen zu lassen, dann bleibt man dem Termin einfach fern, weil man es nicht aushält.
Wie hat dein soziales Umfeld damals reagiert?
Ich hatte großes Glück mit meinem Umfeld. Ich wurde finanziell unterstützt, damit ich mir Essen kaufen konnte. Sie haben dafür gesorgt, dass ich nicht aus dem sozialen und kulturellen Leben ausgeschlossen wurde. Das sehe ich jedoch auch als Privileg. Den meisten Menschen geht das nicht so.
Das Geld vom Jobcenter reicht nicht aus, um mit Freunden ins Kino zu gehen, was essen zu gehen, jedes Wochenende in die Kneipe zu gehen. Und wenn dann keine Leute da sind, die das selbstverständlich untereinander aufteilen, damit du eben trotzdem teilhaben kannst – dann bist du sozial isoliert. Das hat das Jobcenter bei mir zum Glück nicht geschafft.
Wie hat sich die Coronapandemie auf deine Situation ausgewirkt?
Die Pandemie wirkt sich natürlich auch auf die Arbeit des Jobcenters aus. Es finden kaum noch Termine statt und in viele Bereiche kann nicht mehr vermittelt werden. Dadurch wurde ich jetzt fast ein Jahr in Ruhe gelassen. Ich konnte dieses Jahr für mich nutzen und mache jetzt seit längerem eine Therapie, um mit den Depressionen fertig zu werden.
Ich weiß, dass es bei Vielen anders ist, aber für meine persönliche Situation ist die Pandemie gerade das Beste, was passieren konnte. Ich habe den Kopf frei, bekomme keine Post, der Druck ist weg und die Angst im Nacken auch. Allerdings habe ich schon zu spüren bekommen, dass die Zeiten sich auch wieder ändern werden.
Ich habe vor wenigen Wochen einen Anruf von einer Jobcenter-Mitarbeiterin erhalten. Sie hat mich gefragt, ob ich denn nun genug therapiert sei, um wieder für den Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Ich war ziemlich sprachlos in diesem Moment.
Sie möchte eine Einschätzung meiner Therapeutin über meine Arbeitsfähigkeit. Das ist natürlich der nächste Schlag, denn diese Therapie ist für mich etwas höchst Privates – und das Jobcenter dringt auch hier ein.
Was sind deine Pläne für die Zukunft?
Entgegen dem Klischee des faulen Arbeitslosen möchte ich – genauso wie die meisten Leistungsbezieher – weg vom Jobcenter und wieder einer Tätigkeit nachkommen. Weg von Hartz4, das ist mein größter Wunsch. Ich möchte meine Selbstständigkeit wieder aufnehmen, sobald das möglich ist. Das Jobcenter macht es einem aber so unglaublich schwer, aus diesem System raus zu kommen. Die haben wenig Interesse daran, mich bei meinen Plänen zu unterstützen.
Wenn du am Jobcenter-System etwas ändern könntest – was wäre es?
Die Frage lässt sich schwer beantworten, denn wie du schon sagst – das ist eine Systemfrage. Ich würde das Jobcenter abschaffen und etwas komplett Neues aufbauen. Es müssen realistische Maßstäbe an Menschen angelegt werden, die mentale Gesundheit und Lebensrealität muss berücksichtigt werden.
Außerdem brauchen wir einen anderen Blick auf Arbeit: Wenn sich jemand dazu entscheidet, Hausfrau oder Hausmann zu sein und Kinder zu erziehen, dann ist das genauso Arbeit, die für die Gesellschaft viel wichtiger ist als alle Maßnahmen des Jobcenters zusammen. Aber wie gesagt, in einem System, das nun mal so wirtschaftet, ist es profitabler, so viele Menschen wie möglich als billige Arbeitskräfte zu halten.
Was wünschst du dir für dich und für andere, die vom Jobcenter abhängig sind?
Wenn das Jobcenter als Institution bestehen bleibt wie es ist, dann brauchen wir Anlaufstellen, die für alle Menschen zugänglich sind. Dort müssen wir mentale Unterstützung erfahren, damit wir merken, dass wir mit diesem ganzen Mist nicht allein sind. Das Jobcenter stellt sich uns gegenüber so mächtig dar und wir fühlen uns ausgeliefert. Aber wir sind viele und können uns dem gemeinsam widersetzen.
*Name geändert. Das Interview fand im Rahmen der Kampagne #jobcenterunmöglich des „Solidaritätsnetzwerks Leipzig“ statt.
Quelle: Perspektive Online