Erst Verwaltungen und Kitas, ab Dienstag werden auch Busse und Bahnen bestreikt: Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Streikwelle im öffentlichen Dienst.
Jetzt macht Verdi ernst. Nach ersten Warnstreiks bei Verwaltungen, Abwasserbetrieben oder in Kitas soll ab dem kommenden Dienstag in ganz Deutschland auch der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) bestreikt werden. „Der ÖPNV befindet sich bundesweit in einer schwierigen Situation“, sagte die stellvertretende Verdi-Vorsitzende Christine Behle. „Nach 20 Jahren Sparkurs auf dem Rücken der Beschäftigten sind die Grenzen der Belastbarkeit erreicht.“
Während nach außen der Eindruck einer einheitlichen Streikfront im öffentlichen Dienst entsteht, geht es tatsächlich um zwei unterschiedliche Tarifrunden. Die wichtigsten Fragen und Antworten:
Über welche Themen wird verhandelt?
Zum einen läuft die Tarifrunde für die rund 2,4 Millionen Arbeitnehmer und Auszubildenden beim Bund und bei den Kommunen. Verdi verhandelt hier zugleich für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), die Gewerkschaft der Polizei (GdP) und die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG Bau). Außerdem sitzt der Beamtenbund mit am Verhandlungstisch.
Die Gewerkschaften fordern 4,8 Prozent mehr Geld für die Beschäftigten für zwölf Monate, mindestens aber 150 Euro.
Da die Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) auch nach zwei Verhandlungsrunden noch kein Angebot vorgelegt hat, haben die Gewerkschaften zu ersten Warnstreiks aufgerufen.
Unabhängig davon hat Verdi die VKA zu Verhandlungen über einen bundesweiten Rahmentarifvertrag für den ÖPNV aufgerufen.
Weil die Arbeitgeber darüber nicht reden wollen, soll es ab Dienstag nun bundesweite Streiks bei Bussen und Bahnen geben.
Worum geht es genau im öffentlichen Personennahverkehr?
Für den ÖPNV gibt es in 15 Bundesländern eigene Tarifverträge Nahverkehr (TV-N) mit der VKA, in Hamburg einen Haustarifvertrag mit der Hamburger Hochbahn. Die Entgelte unterscheiden sich von Land zu Land um bis zu 700 Euro, auch die Zahl der Urlaubstage oder die Wochenarbeitszeit differiert. Verdi fordert deshalb, in einem bundesweiten Rahmentarifvertrag zumindest die Zahl der Urlaubstage oder Sonderzahlungen zu vereinheitlichen und eine Regelung für eine bessere Bezahlung von Überstunden zu verankern. Der Vertrag soll für rund 130 kommunale Verkehrsunternehmen und 87.000 Beschäftigte gelten.
Geht es bei den Verkehrsunternehmen also nicht um mehr Geld?
Jetzt wird es kompliziert. In den Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Niedersachsen, Hessen, Rheinland-Pfalz und Sachsen ist die Entlohnung im Nahverkehr an den Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes gekoppelt. Für die Beschäftigten dort ist also relevant, was jetzt in der Tarifrunde bei Bund und Kommunen rauskommt. In den übrigen Bundesländern wird mit der VKA separat über die Entgelte verhandelt.
Allerdings sind derzeit nicht alle Entgelttarifverträge gekündigt, so dass nur regional auch über mehr Geld geredet wird. Wohl aber bringt die Gewerkschaft in einzelnen Ländern spezielle Forderungen ein: In Berlin etwa will Verdi durchsetzen, dass Neueinsteiger nicht 39 Wochenstunden arbeiten, sondern nur 36,5 Stunden – so wie die Kollegen, die schon länger dabei sind.
Warum machen die Gewerkschaften im ÖPNV Druck?
Den Arbeitnehmervertretern geht es um zweierlei: Zum einen wollen sie die Arbeitsbedingungen angleichen und verbessern. Sie werfen den kommunalen Betrieben vor, jahrelang einen harten Sparkurs auf dem Rücken der Beschäftigten gefahren zu haben. Mira Ball, Bundesfachgruppenleiterin Busse und Bahnen bei Verdi, berichtet von Krankenständen im zweistelligen Prozentbereich, stundenlangen Fahrten im Führerstand ohne Toilettenpause und hohen Überstunden. Weil bis 2030 jeder zweite Beschäftigte in Rente geht, werden im ÖPNV bis dahin etwa 100.000 neue Beschäftigte benötigt. Wegen der Arbeitsbedingungen gebe es aber eine „echte Personalrekrutierungskrise“, sagt Ball.
Dabei müsse der öffentliche Nahverkehr dringend ausgebaut und attraktiver gemacht werden, um die Klimaziele zu erreichen. Das ist das zweite Anliegen, das Verdi umtreibt. Die Gewerkschaft hat sich deshalb mit den Klimaaktivisten von Fridays for Future zusammengetan, beide wollen sich gegenseitig mit Aktionen unterstützen.
Drohen jetzt massive Streiks?
Die öffentlichen Verkehrsunternehmen haben wegen der Coronakrise einen massiven Einbruch bei den Fahrgastzahlen und damit bei den Einnahmen erlebt. Für Verdi ist das aber kein Grund, auf Arbeitskampfmaßnahmen zu verzichten. Denn Bund und Länder hatten Mitte Juni einen Corona-Rettungsschirm gespannt und sich darauf verständigt, den öffentlichen Nahverkehr mit einmalig fünf Milliarden Euro zu stützen und so Einnahmeausfälle abzufedern.
Die Gewerkschaft dürfte sich die Gelegenheit zu umfassenden Streiks schon deshalb nicht entgehen lassen, weil es ihr in jahrelanger Arbeit gelungen ist, alle regionalen Nahverkehrstarifverträge zeitlich zu synchronisieren und einheitlich zum 30. Juni 2020 zu kündigen. Deshalb können sie jetzt nicht nur in einzelnen Ländern, sondern bundesweit Druck machen.
VKA-Hauptgeschäftsführer Niklas Benrath sprach von einem „Anschlag auf die Allgemeinheit und die Wirtschaftlichkeit der kommunalen Unternehmen des öffentlichen Nahverkehrs“. Er warf den Gewerkschaften vor, in mehreren Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge einen „Machtkampf“ zu führen, der „vollkommen unverhältnismäßig“ sei.
Denn auch in der Entgeltrunde für die Beschäftigten von Bund und Kommunen haben die Gewerkschaften mehrfach ihre Kampfbereitschaft betont, auch wenn Streiks in den gerade erst wieder weitgehend im Normalbetreib laufenden Kitas sicher in der Öffentlichkeit nicht gut ankommen werden.
Quelle: Handelsblatt